jw 203 BRUNO ANGELONI & STEFFEN ROTH
SPIRALE
BRUNO ANGELONI tenor & soprano saxophone
STEFFEN ROTH drums

DE
SPIRALE Ist ein improvisierendes Duo. Seit 2017 arbeiten sie in Leipzig an einer musikalischen Sprache die ihre Wurzeln im Free-Jazz hat und bringen diese regelmäßig auf die Bühnen der improvisierten Musik. Ihre Konzerte sind eine Ode an die Progressivität, das Wagnis und die Freiheit, die sie selbst beim Spielen wohl am stärksten spüren.
Die imposante musikalische Vita des Saxophonisten Bruno Angeloni (geb. 1955, spielt u.a. mit Reggie Workman, Andrew Cyrille oder Michael Zerang) verleitet dazu, ihn vorschnell als Freejazzer zu etikettieren. Wir werden vor dieser ‚ Einschrankung‘ gewarnt: Ihr entgehe Angelonis wunderbarer Sinn für Form und seine weise Phrasierung. „er [ist] nicht nur frei von Klischees, sondern erfindet eigene atonale Losungen im Bewusstsein der Tonaltradition. sein Ton [besitzt] eine Kraft, der die zarte und kalligraphische Tradition des Sopran-Saxophons in einen Raum starker Expressivitat verlegt“ Giorgio Gaslini, Komponist und Publizist
Steffen Roth (29 Jahre) studierte in Dresden Jazz/Rock/Pop im Hauptfach Schlagzeug. Nach dem Erhalt seines Diploms absolvierte er von 2015 bis 2017 die Meisterklasse bei Michael Griener und Eric Schaefer, unterstützt durch ein Graduiertenstipendium des Landes Sachsen. Mit dem Julia Kadel Trio veröffentlichte er bereits zwei Produktionen auf dem international renommierten Jazzlabel Blue-Note (Im Vertrauen [2014], Über und unter [2015]), womit seine internationale Karriere eingeleitet wurde. 2017 erschien sein Solo-Debut bei dem jungen Mülheimer Label Ana Ott. Ausgehend von der freien Szene Leipzigs und Dresdens arbeitet Steffen Roth – solistisch, in Duo bis Big Band-Formation – an musikalischen und formellen Grenzverschiebungen.
“ […] The percussionist seemingly fuses chaos and order and it’s here, in this mix of free improvisation and repetition, tension and catharsis that the ‚opening‘ comes to light and the whole performance become a transformative experience.“ Giulia Ponzano zur Solo-Performance beim Internationalen Kurzfilmfestival Oberhausen 2018

EN
Bruno Angeloni – Because of his generation (’55) and his past fellow musicians such as Reggie Workman, Andrew Cyrille or Michael Zerang, one could easily sum up Angeloni and his saxophone in one or two clichés.
The Italian composer and publicist Giorgio Gaslini holds that it would be too simple and restrictive to define him as a free jazz man. His playing comprises virtually all types of music. Travelling and curiosity form an oeuvre devoid of stereotypes, rife of atonal solutions with awareness of the tonal tradition.
The inner and outer struggle to find his way in the 80s‘ music business, as a then young improvising saxophonist, without having to work in a commercial and adapted manner, eventually made him abdicate the market entirely and to earn a living on construction sites. Enough with TV orchestras and engagements in Tokyo, lasting for weeks, and where music at most achieves an after-work chat in collar and tie.
Not till this ‚break‘, which led him to countries like Iran, South Africa and Russia, he could rediscover his own sound, sharpen and strengthen it in such a way as to let music once again govern his life. After a short orientation phase in Rome at the beginning of the noughties, invitations to the Monterrey Jazz Festival took him two years in a row to Mexico, where his vita got enhanced by names like Andrew Cyrille, Reggie Workman, Agusti Fernandez and Carl-Ludwig Hübsch. Another trip to Mexico in 2009 extended to two years. Rome was no longer an option. In 2012, he decided to move to Germany. Halle; Leipzig; Berlin.
There, he used the change of air for sessions in the local scenes. Tristan Honsinger, Michael Zerang and Klaus Kürvers were some of his regular and favoured colleagues. Since 2016, back in Leipzig, he had several rather coincidental meetings at public sessions with the 24 years younger drummer Steffen Roth. Henceforth, together they form the duo SPIRALE.

LINER NOTES – DE

To create is to remember / Zu erschaffen heißt zu erinnern
Akira Kurosawa, Filmemacher, Japan (1919 – 1998)
Wir sind Erinnerung.
Wir sind Erinnerung und Wiederholung. Reproduzieren und Teilen. Im Großen und im Kleinen. Solange wir leben, wiederholen wir uns. Wir wiederholen bekannte Laute und kommunizieren so, nennen sie Sprache oder auch Musik. Wir wiederholen Verhalten, erinnert oder verinnerlicht, und nennen es Ich.
Und nach jedem Erwachen erspielen wir uns neu. Ein Fuß im Gestern, einen in der Luft. Solange wir leben, stets auf der Kippe.
Wir sind Erinnerung und unsere Gegenwart ist das, was stets-nicht-mehr-und-stets-noch-nicht existiert.
So gibt es Gegenwart im Grunde nicht und wäre gegenwärtig sein wohl das gleiche wie tot sein. Auf jeden Fall bleiben wir selbst nach dem Tod auch Erinnerung – nun die der anderen.
Die Geister bilden dabei Verwandtschaften. Kurosawa. Tarkowskij. Verwandte Geister. Chris Kelvin, der in Solaris sagt: Der Mensch braucht den Menschen.
Bei der Begegnung im Werk spielt keine Rolle mehr, ob der Künstler noch lebt.
Gehört-, Gesehen-, Gelebtes teilen. Alleine und ohne Erinnerung geht es nicht.
Ohne ein Gestern wäre unser Ich ohne Substanz – doch in Nuancen improvisieren wir uns auch neu. Wir variieren die Wiederholung und schaffen Neues aus Altem, verschieben Verhalten und Wahrnehmung.
Ohne ein Gegenüber wäre unser Ich ohne Grenze – doch perforiert unser Geist die Grenzen auch.
Veränderung entsteht. Kunst, oder mit einem anderen Wort, Kommunikation.
So sehr wir uns dabei auch zur Gegenwart hinlehnen, ohne ein Gestern, ohne Erinnerung zu sein, wäre beängstigend – vielleicht beängstigender noch als das offene Morgen, als permanent auf der Kippe zu stehen.
Wir brauchen die Illusion vom definierten Ich und Du. Einen Vertrauten, eine Vertraute. Ein echtes Gegenüber.
So nennen wir das, was uns und andere in der Erinnerung unterscheidet, ich und du. Unsere Erinnerung erhebt sich gegen die Einsamkeit.
Der Mensch braucht den Menschen.
Erinnerung umgrenzt dabei die verschiedenen Ichs, umgrenzt mich und dich, macht uns erfahrbar und greifbar, kommunikabel.
In der geglückten Begegnung aber fühlen wir uns verbunden, finden in Liebe und Kunst oft die Grenzen nicht mehr vor.
Der Mensch braucht Kunst, die ihm das gestern als etwas Neues in Erinnerung ruft, die eine Tür ins Unbekannte eröffnet. Wo keine Hoffnung auf Veränderung ist, herrscht Furcht.
Geglückte Kunst sagt dem Menschen: Fürchte Dich nicht.
Geglückte Kunst ist immer neu, doch nie gänzlich aus Neuem.
So muss der Künstler das Gestern verstofflichen und es ins Heute hineinspielen.
In Mitten endloser Wiederholung wird Ungehörtes erklingen, noch Ungesehenes sich zeigen – so gibt es nicht nur Hoffnung, sondern auch die Möglichkeit uns fremd zu werden. (Vielleicht sind beide auch ein und dasselbe.)
Wird die Vergangenheit, Gehört-, Gesehen-, Gelebtes nur gut genug zerschlagen, nur fein genug zermahlen, so beginnt aus Wiederholung und Variation die Kunst der Improvisation zu werden.
So füllen Bilder und Klänge die immer schwindende Gegenwart mit neuen Stoffen der Vergangenheit.
Der Künstler spielt mit sich, mit der Erinnerung als Material, arbeitet mehr oder weniger fein dabei, auch gerne grob. Das wache Leben, gleich einer Plattensammlung: Immer neu ordnen. Entrümpeln. Und immer wieder die Scherben zusammensetzen. Unendlich viel zu entdecken. Die feinen Rillen. Das Leben entstauben, auf Kippe halten.
Der Mensch braucht den Menschen.
Manch ein Erlebnis, manche Nacht voller Träume vermag unser Ich so sehr zu erschüttern, dass wir uns am Morgen nur mit Mühe wieder zusammenfügen.
Wer waren wir nochmal gestern? Wer wollen wir heute sein? Zu viel der Improvisation? Was ist geschehen im kleinen Tod, dem Schlaf, der kurzen nächtlichen Gegenwart?
Lieber erschlagen werden von der Musik als gelangweilt.
Ein wenig von der Gegenwart, der Ich-Vergessenheit, kosten. Dann wären wir mehr als Wiederholung. Wir wären nah am Geschehen.
Wow…
Nichts ist dabei besser, als Musik auf der Kippe zum Schlaf zu hören.
Zu improvisieren heißt wild zu denken. Nicht nur die Menschen und Geister bilden Verwandtschaften, auch unsere Worte und Klänge bedürfen einander.
So gibt es Gegenwart nur für den Preis des Vergessens.
In Liebe und Kunst das Ich provisorisch halten.
Zeit mag ein Symptom der Erinnerung sein.
Time is a symptom of Love.
Einmal die Zeit festhalten – ein ewiger Menschheitstraum.
Liebe festhalten. Portraits von Verstorbenen.
Und dann die Faszination, die Verblüffung, die die Aufnahmen von Bewegungen auslösten. Gefangene Klänge. Das Wiederlebendigwerden.
Schallplatte. Celluloid. CD. Der Kinematograph. Das Magnetband. Verwandte.
So ist die Aufnahme improvisierter Musik im Grunde ein Paradox. Was zwischen Noch-nicht und Nicht-mehr passiert, durch Wiederholbarkeit fast greifbar gemacht. Ganz nah ans Jetzt gepresst.
Musik als versiegelte Zeit.
Mehr Gegenwart geht nicht.

Andreas Schendel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert