CD jw 175 ERIC PLANDÉ & BARRE PHILLIPS
BREATH OF TIME
ERIC PLANDÉ tenor & soprano saxophones
BARRE PHILLIPS double bass

DE
TUN UND GESCHEHENLASSEN
Die Zeit atmet. Ein und aus. Sie bläht sich auf, oder sie macht sich schmal und leer, abwechselnd, mit unterschiedlicher Intensität oder auch zugleich an verschiedenen Orten. Manchmal hält die Zeit sogar die Luft an. Jeder weiß das, aber niemand mag es so richtig glauben. Zeit vergeht doch einfach ohne unser Zutun, denkt unser Alltagsbewusstsein. Damit liegt es ja auch nicht ganz falsch. Die Zeit tickt so dahin und fängt nach 24 Stunden wieder von vorn damit an.
Aber wie Zeit vergeht und was sie dabei mit uns macht, das sind die interessanteren Fragen. Abgesehen davon, dass unser Alltagsbewusstsein, das so gern linear denkt, langsam auch mal akzeptieren könnte, dass es seit Einstein die Raumzeit gibt, dass alles in gekrümmten Bahnen verläuft und eben nicht unendlich geradeaus. Aber das ist wirklich sehr schwer zu verstehen.
Improvisierende Musiker wissen mehr über die Zeit und über ihren Atem, auch wenn ihr Wissen ein intuitives ist. Improvisierende Musiker spielen ja nicht einfach drauflos, wie es gerade kommt, und schauen dann, was so passiert. Improvisierende Musiker befassen sich gründlich mit jener Ordnung der Welt, die aus Einatmen und Ausatmen gebildet wird und aus den vielen Konstellationen dazwischen oder manchmal auch aus einer zeitweiligen Überwindung dieses notwendigen Rhythmus, den man dennoch nie ganz vergessen kann. Improvisierende Musiker können erst zu spielen anfangen, wenn sie den richtigen Ton und eine tragfähige Haltung zum Vergehen der Zeit gefunden haben.
Wer nicht allein improvisiert, muss eine Haltung finden, die er mit den anderen improvisierenden Musikern teilt. Improvisation besteht nur zu einem Teil aus Aktivität, aus Spielen und Tun, Suchen und Finden, Aufbrechen und Abbrechen, Weitermachen und Beenden. Ein anderer Aspekt des Improvisierens ist das Geschehenlassen. Das Lauschen, Nachhören, Verstummen, Zurücktreten, Abwarten. Zwischen beiden Arbeitsweisen gibt es keinen Jägerzaun, beide gehen ineinander über oder geschehen gleichzeitig. Das Beste, was in einer Improvisation entstehen kann, ist eine Balance zwischen Geschehenlassen und aktivem Beeinflussen. Ein Schwebezustand, in dem man dem Atem der Zeit gehorcht und den eigenen damit in Einklang bringen kann. Nur dann entsteht improvisierte Musik, die nicht nur aufhorchen lässt, sondern miterlebbar wird. Das klingt vielleicht ein bisschen mystifizierend, ist es aber nicht: man kann es ja hören.
Eric Plandé und Barre Phillips, die zwei verschiedenen Musiker-Generationen angehören, improvisieren frei und zusammen, und sie haben dem Ergebnis den durchaus gewagten Titel ‚Breath of Time‘ gegeben. Das ist eine Art Obertitel. Die Musik ist in 13 Stücke unterteilt, und im sechsten Stück taucht der Obertitel noch einmal als Kapitelüberschrift auf. Eric Plandé öffnet im ersten Stück mit einer aufsteigenden Quinte die Tür, Barre Phillips geht mit seinem sonoren Bass höflich und würdig mit. Ganz am Ende beschließt eine absteigende Quinte den Spielprozess. Wenn so etwas entsteht, ist das nicht unbedingt Absicht. Der Atem der Zeit muss für Eric Plandé und Barre Phillips nicht rhythmisch strukturiert werden, sie finden sich auch so zurecht. Sie schaffen gemeinsame Linienwerke auf mehreren Ebenen, die bei aller Nähe und manchmal auch gegenseitigen Verschlingung immer getrennt bleiben. Und die 13 Stücke entspringen keiner nachträglichen Einteilung, sondern ergeben sich aus gemeinsam gefundenen Anfängen und Enden und neu beginnenden Abschnitten. Sie entstehen aus gemeinsam gestalteten Zeitverläufen. Hans-Jürgen Linke

EN
Eric Plandé and Barre Phillips, belonging to different generations of musicians, improvise freely and jointly, and they call the result quite delicately ‚Breath of Time‘ as a running title. The music is subdivided in 13 parts, and in the sixth part this running title is used as a heading again. In the first part Eric Plandé
opens the door with a rising fifth and Barre Phillips follows with his resonant double bass politely and with dignity. And at the very end the musical interplay is closed by a descending fifth. This outcome may have evolved inadvertently. For Eric Plandé and Barre Phillips the breath of time has not to be structured
by rhythm, they just get along their way. They create shared paths on multiple levels that, although being close or sometimes even intertwined, always remain integer. And the 13 parts do not stem from a retroactive arrangement, they result from beginnings, endings and new segments found together. They
emerge from the creative process over time. Hans-Jürgen Linke

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