CD jw 177 ERNST-LUDWIG PETROWSKY
LUTEN AT JAZZWERKSTATT PEITZ
ERNST-LUDWIG PETROWSKY alto saxophone & clarinet
ALEXANDER VON SCHLIPPENBACH piano
CHRISTIAN LILLINGER drums & percussion
In May 2011 the three of them played in the film theater in Peitz, where the jazz workshop was launched in the early 1970s. After a break of almost three decades, free jazz was back here. With this trio, the jazzwerkstatt set an exclamation mark for a new beginning. It is fitting that this CD will be published to mark the 50th anniversary of the jazzwerkstatt in Peitz. And that it appears in the year of Ernst-Ludwig Petrowsky’s ninetieth birthday. We all – the jazz scene, the musicians, the audience – owe much more to him, who has not been able to play for many years due to health reasons, than can be expressed in this text. Bert Noglik
Die Drei spielten im Mai 2011 im Filmtheater in Peitz, dort, wo Anfang der siebziger Jahre die jazzwerkstatt aus der Taufe gehoben wurde. Nach einer Pause von beinahe drei Jahrzehnten gab es hier wieder freien Jazz. Mit diesem Trio setzte die jazzwerkstatt ein Ausrufezeichen zum Neubeginn. Passend, dass diese CD zum Jubiläum 50 Jahre jazzwerkstatt Peitz verlegt wird. Und dass sie im Jahr des neunzigsten Geburtstages von Ernst-Ludwig Petrowsky erscheint. Ihm, der nun gesundheitsbedingt schon seit vielen Jahre nicht mehr spielen kann, verdanken wir alle – die Jazzszene, die Musiker, das Publikum – viel mehr, als sich in diesem Text ausdrücken ließe. Bert Noglik
>>> Es gibt auch einen Originaltext in Deutsch:
‚UND DAS ALLES IN PEITZ!‘
ERNST-LUDWIG PETROWSKY – ALEXANDER VON SCHLIPPENBACH – CHRISTIAN LILLINGER
Der Ort ist bedeutsam, der Zeitpunkt nicht minder. Die Drei spielen im Mai 2011 im Filmtheater in Peitz, dort, wo Anfang der siebziger Jahre die jazzwerkstatt aus der Taufe gehoben wurde. Nach einer Pause von beinahe drei Jahrzehnten gibt es hier wieder freien Jazz. Mit diesem Trio setzte die jazzwerkstatt ein Ausrufezeichen zum Neubeginn.
Die frühen Jahre von 1973/74 bis zum Verbot durch die DDR-Staatsfunktionäre 1982 erscheinen mit Abstand legendär. Die gesamte europäische Jazz-Avantgarde traf sich in Peitz, tauschte sich aus und trieb die Musik voran. Zugleich wurde der kleine Ort zum Treff- und Fluchtpunkt für eine unangepasste Ost-Jugend, ein Fest, frei von der sonst beinahe omnipräsenten Bevormundung. In den beiden Bänden Woodstock am Karpfenteich kann man einiges darüber nachlesen.
Mit Ernst-Ludwig Petrowsky und Alexander von Schlippenbach kamen an diesem 14. Mai zwei Musiker auf die Bühne, die beide für ihre Szenen wegweisend gewirkt haben – Luten Petrowsky, der ‚Dienstälteste‘, wie er sich oft selbst nannte, in jedem Falle eine Vaterfigur des Jazz in (ost)deutschen Landen, und Alexander von Schlippenbach, einer der ‚Musiker der ersten Stunde‘ des (west)deutschen (Free)Jazz, ein klanggewaltiger Musikschöpfer, der sich seit dem ersten Auftritt mit seinem Globe Unity Orchestra unauslöschlich in die Geschichte des europäischen Jazz eingeschrieben hat. Dazu nun Christian Lillinger, der Jahrzehnte Jüngere und bereits zu dieser Zeit mit Gruppen wie Hyperactive Kid und Christian Lillingers Grund eigenständig profilierte Schlagzeuger.
Querverbindungen zwischen den Biografien gibt es etliche. Petrowsky und von Schlippenbach haben sich bereits Anfang der siebziger Jahre kennengelernt – damals, als Musiker aus dem Umkreis der West-Berliner FMP, der Free Music Production mit Tagesvisa in den Ostteil der Stadt kamen und dort bei den Montagssessions in der Großen Melodie, einer Nachtbar im alten Friedrichstadtpalast, mit ihren Kollegen aus der DDR zusammentrafen. Alexander von Schlippenbach zählte dann auch zu den ersten westlichen Musikern, die von den Veranstaltern der jazzwerkstatt privat, also ohne offizielle Genehmigung, nach Peitz eingeladen wurden. Als Sommer – Winter Duo angekündigt, traten beispielsweise Günter Baby Sommer und Peter Kowald auf die Bühne, ebenso ein Pianist, dessen Name nicht genannt, der aber vom Fanpublikum gespannt erwartet und natürlich auch erkannt wurde: Alexander von Schlippenbach. In den folgenden Jahren sind sich die beiden – Ernst-Ludwig Petrowsky und Alexander von Schlippenbach – dann öfter begegnet, spielten sie gemeinsam in diversen ad-hoc- bzw. Werkstattformationen. Noch vor dem Fall der Mauer wurde Petrowsky schließlich auch Mitglied im Globe Unity Orchestra.
Als Christian Lillinger, geboren 1984 in Lübben im Spreewald, seine Musikerlaufbahn begann, waren die frühen Jahre der jazzwerkstatt zwar längst Geschichte. Dennoch hat er von dieser Szene und von diesen Musikern im besten Sinne des Wortes einiges ‚mitbekommen‘, nicht zuletzt auch durch sein Studium bei Günter Baby Sommer in Dresden. Christian Lillinger hat später ebenfalls im Globe Unity Orchestra gespielt, und er hatte die Chance, in Gruppen um Oliver Schwerdt intensiv mit Ernst-Ludwig Petrowsky zusammenzuarbeiten. Inzwischen geht er, auch konzeptionell, eigene Wege im Spannungsfeld von Chaos und Struktur, kompositorischer Setzung und situativer Gestaltung, u.a. mit Gruppen bzw. Projekten wie Dell – Lillinger – Westergaard, Punkt.Vrt.Plastik, Open Form For Society, Boulez Materialism oder Penumbra.
Zurück zum Ausgangspunkt, zum Konzert in Peitz. Die Drei – Luten, Alex und Lillinger – finden spontan eine gemeinsame Wellenlänge und eine gemeinsame musikalische Sprache. Da schwingt viel Respekt füreinander mit, viel Erfahrung im Umgang mit Improvisation, mit Spannungsbögen und Klängen, die sich verdichten, entflechten und in hochenergetischer Expressivität kulminieren. Der Vergleich mit einer der langlebigsten Kleingruppen Alexander von Schlippenbachs liegt nahe, der mit seinem Trio in der Besetzung mit dem Saxophonisten Evan Parker und Paul Lovens bzw. später auch Paul Lytton am Schlagzeug. Vom Instrumentarium her ähnlich, hinsichtlich der Klangästhetik verwandt, entsteht hier dennoch etwas Differentes. Im Grunde kann es auch gar nicht anders sein bei dieser Art von Musik, die sich vor allem durch die Persönlichkeiten der beteiligten Spieler definiert. Luten erzeugt ohne die für Parker auf dem Sopransaxophon typische Zirkularatmung kontinuierliche aneinander gereihte Klangfiguren, die – unter Vermeidung traditioneller Tonalität und Melodik – stockend und stürmend nach vorn weisen. Mit Überblastechniken, alternativen Griffweisen und unkonventioneller Tonbildung gelingen ihm splittrige Sounds von großer Eindringlichkeit, die von Alexander von Schlippenbach und Christian Lillinger nicht nur begleitet, sondern kongenial konterkariert und dynamisch miteinander verflochten werden, so dass ein mitreißender Flow entsteht.
So viel zur Musik, die zu beschreiben nicht unbedingt näher an sie heranführt. Wesentlicher erscheint das Atmosphärische. Ich erinnere mich lebhaft an die Stimmung an diesem Nachmittag und daran, nach so langer Zeit wieder an diesem ‚historischen‘ Ort zu sein – in dem kleinen Kino, das für viele von uns in den siebziger Jahre zu einer Weltbühne der freien Improvisationsmusik wurde. Nun, mit Abstand, vermischten sich Erinnerungen mit der Freude des Wiedersehens. Und die Musik dieses Trios riss uns aus der Nostalgie: Time is Now.
Ingrid Hoberg hat das Geschehen dieses Abends trefflich eingefangen, wenn sie in einem Artikel für die Lausitzer Rundschau protokolliert: „In Peitz herrscht Klassentreffen-Stimmung. Im Filmtheater, in dem schon lange keine Filme mehr laufen, kommen am Samstagabend wie einst Leute zusammen, die sich für Jazz – für Free Jazz – begeistern. Nach fast dreißig Jahren gibt es die Werkstatt Nr. 48, die nahtlos an Nr. 47 aus dem Jahr 1982 anschließt. Faszinierend das achtziger-Jahre-Ambiente, das im Kinosaal erhalten geblieben ist. Nicht nur die Holzsitze im Zuschauerraum und die Vorhänge in Orange und Blau der Zeit sind noch da. Ich glaube, mich auch an den etwas muffigen Duft zu erinnern, stellt Petrowsky fest. Auf ein Neues, nuschelt Schlippenbach auf die schelmische Frage von Petrowsky: Was spielen wir? Die Rundfunkleute wollen eine Playlist haben.“
Petrowsky war oft zur jazzwerkstatt in Peitz zu Gast, er gehörte dazu. Auf der CD Ein Nachmittag in Peitz kann man ihm nachhören, im Duo mit Harry Miller, im Quintett mit Heinz Becker, Joe Sachse, Klaus Koch und Tony Oxley sowie mit einer seiner unnachahmlichen Ansagen, aufgezeichnet im April 1981. Bereits zehn Jahre zuvor, also noch bevor Ulli Blobel und Peter Metag mit der Nummerierung der Konzerte begannen, hat er in Peitz mit seinem Quartett gespielt. Wer sich in Woodstock am Karpfenteich, dem ersten Buch über die jazzwerkstatt Peitz, durch die Programme blättert, wird allenthalben auf Lutens Namen stoßen. Dort erfahren wir auch, dass Petrowsky sogar seinen allerersten Auftritt als Profimusiker in Peitz hatte, 1957 als Saxophonist des Orchesters von Eberhard Weise – lange bevor der Ort zu einem Mekka des freien Jazz wurde.
Passend, dass diese CD zum Jubiläum 50 Jahre jazzwerkstatt Peitz verlegt wird. Und dass sie im Jahr des neunzigsten Geburtstages von Ernst-Ludwig Petrowsky erscheint. Ihm, der nun gesundheitsbedingt schon seit vielen Jahre nicht mehr spielen kann, verdanken wir alle – die Jazzszene, die Musiker, das Publikum – viel mehr, als sich in diesem Text ausdrücken ließe. Bert Noglik